Die Spiegel-Affäre: ein Plädoyer für die regionale Presse

Kann passieren, selbst dem SPIEGEL. Denn die Faktenkontrolle funktioniert dort – nur dann nicht mehr, wenn mit krimineller Energie und einem Höchstmaß an Schauspielkunst nicht die Fakten, sondern ganze Geschichten erfunden werden. Ohne das Vertrauen, das so etwas nicht vorkommen kann, könnte man keinen Journalismus mehr betreiben, keine Zeitungen herausbringen, keine Portale befüllen. Die Aufarbeitung beim wichtigsten deutschem Magazin läuft auf Hochtouren und transparent. Am angerichteteten Schaden kann dies nichts ändern.

Die sozialen Medien füllen sich erwartungsgemäß mit den fake-news“-Rufern, die dies und alles andere schon immer gewusst haben wollen. Diese etwas andere  SPIEGEL-Affäre wird viele Jahre als Beleg dafür dienen müssen, dass die traditionellen Medien eben nicht die Wahrheit und nicht als die Wahrheit berichten. Das ausgerechnet auch die kleine Geschichte von einem Flüchtling, der in Deutschland Geld findet und sofort bei der Polizei abgibt und die große Reportage aus einer US-Kleinstadt, die stramm rechts Trump wählt, offenbar komplett erfunden sind, macht es nicht besser.

Einen Claas Relotius hätte es in einer Kleinstadt nicht geben können, auch nicht in einem größeren Landkreis. Guter Lokaljournalismus ist ohnehin schon schwieriger als die Geschichte für eine große überregionale Zeitung: denn Themen zwischen Milchkannen, Vereinsfeier und Stadtratssitzung zu finden, die erzählenswert sind, ist Leistungssport. Und zu wissen, dass fast jede Nuance einer Story nicht nur von eigenen Kollegen, sondern auch von vielen Lesern auf ihre Wahrhaftigkeit hin beurteilt werden kann, macht den Job nicht einfacher .

In den Relotios-Sagen singen die erfundenen Protagonisten gerne, auch auf der Straße, inhaltlich immer passend. Es wäre leichtsinnig von einem Reporter der Lokalzeitung, diese Fiktion auf einen deutschen Kleinstadt-Marktplatz zu übertragen, so etwas würde dort wahrgenommen werden. Oder eben nicht. Immerhin, und ihm sollte man unbedingt einen Journalistenpreis zusprechen, war es ein Kollege aus dem eigenen Haus, Juan Moreno, der gegen existenzbedrohende Vorbehalte seinem Verdacht nachging und so sicher eine noch viel größere Beschädigung des Namens seines Magazins verhindern konnte. Seine Aufklärungsarbeit schildert er im Video.

Die “große Geschichte” hat nichts mit großem Journalismus zu tun, die großen Themen der überregionalen Zeitungen und Zeitschriften machen vor allem den Autoren wichtig, das ist nicht zwangsläufig journalistische Kür. Das Portrait einer arbeitslosen alleinerziehenden Mutter in Oberhausen, die Reportage aus der letzten, vor der Schließung stehenden Kneipe im brandenburgischen Nirgendwo – das kann großer, weil schwieriger, anstrengender Journalismus sein. In solche Niederungen aber begibt sich eine “Edelfeder”, der Absolvent einer “Kaderschmiede des Journalismus” und schlussendlich SPIEGEL-Redakteur nicht, es muß schon Trump, es muß schon Syrien oder wenigstens die Heiligenschein-Geschichte eines Flüchtings sein. Unüberprüfbar und vor allem per se wichtig.

Vollends jeden Respekt verlieren muß man, wenn der Münchhausen von der Elbe reklamiert, er hätte ja auch “unter Druck” gestanden, diesen großen, schön geschriebenen Geschichten zu liefern. Nun ist der SPIEGEL Meister darin, über eigene Arbeitsverhältnisse so gut wie nie zu schreiben, aber das am Hamburger Hafen ungefähr bis zum 3-4fachen des durchschnittlichen deutschen Redakteursgehaltes verdient wird, ist sicher kein Märchen. Der “Druck”, dass die nächste Geschichte noch besser werden musste als die vorangegangene ist auschließlich selbstgemacht und vielleicht auch hausgemacht: wer Themen von Weltgeltung preisverdächtig runterschreibt, der fährt nicht in der Woche darauf nach Brandenburg aufs Dorf und versucht dort mit ungewissen Aussichten Themen auszugraben.

Die Kollegin oder der Kollege, der für 3.800Euro im Monat für eine Lokalzeitung Samstags am Rande des aufgeweichten Fußballplatzes steht, hat eine andere Vorstellung von Druck. Und überlegt in der Halbzeit bei einem lauwarmen Kaffee, wie er die Klimakonferenz in Krakau für seine Lokalzeitung spannend aufbereiten kann.

Den Fall in aller Demut aufarbeiten” hat die Chefredaktion des SPIEGEL angekündigt. Dazu könnte durchaus gehören, “Edelfedern” aus “Kaderschmieden” für einige Monate in die deutsche Provinz zu schicken: dort lernt man Journalismus und manchmal sogar den wahren großen Journalismus.

 

Regionale Zeitungen? Liest die noch jemand? Hallo?

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In den vergangenen 10 Jahren haben die regionalen Zeitungen rund 8 Millionen Exemplare an Auflage verloren, in den vergangenen 25 Jahren wurde die Auflage halbiert. Inzwischen gibt es in vielen Städten, auch Großstädten nur noch eine Regionalzeitung. Diese erhält immer öfter ihre Nachrichten auch einer mehr oder weniger weit entfernten Zentralredaktion, was nicht unbedingt dazu beiträgt, das einzig wesentliche Element einer lokalen Zeitung zu stützen: die örtliche Kompetenz.

In Volontärs-Seminaren lohnt sich immer die Frage, wer denn beim Heimatbesuch bei Verwandten oder Eltern dort mal kurz in die Lokalzeitung schaut, die vielleicht ja noch auf dem Küchentisch liegt.  In der Regel niemand.

Interessiert das Lokale noch? Sollte man unzähligen Untersuchungen glauben müsste die “Zeitung vor Ort” sogar eine Renaissance erleben: mehr Nähe, Überschaubarkeit der Ereignisse, Bedenken gegenüber der extrem vernetzten globalen Welt – vieles spricht dafür, dass der Lokaljournalismus ein halbwegs gesichertes Marktpotential hat. Stimmt aber nicht. Jedenfalls nicht mit den Verlagshäusern, die gerne Innovationen woanders anmahnen, selbst aber ein Vierteljahrhundert lang in komplette Agonie verfallen waren.

Ob trotzdem zu hörende optimistische Aussagen zur Zukunft der regionalen Zeitungen und Medien mehr als ein Selbstbeschwörungstanz lokaler Verleger und großer Interessensverbände sind? Prof. Dr. Michel Clement und Prof. Dr. Christian-Mathias Wellbrock von der Uni Hamburg würden dies bejahen, sie konstituieren in einer Untersuchung aus dem vergangenem Jahr das regionale Medien “meist (aufgrund der geringen Marktgröße) regionale Monopolisten sind und exklusive Inhalte (z.B. über regionale Politik, Regionalsport etc.). haben“. Leser würden eine hohe Identifikation mit ihrer Region aufweisen, was eine gute Voraussetzung für eine hohe Leser-Blatt-Bindung darstelle.

Dem schliesst sich der “Bundesverband deutscher Zeitungsverleger” in der repräsentativen Studie „Zeitungsfacetten 2017. Regionale Tageszeitungen im Leser-Check“ gerne an: Jeweils 42 Prozent der Leser würden demnach sogar Werbung in regionalen Zeitungen eher gut finden und diese als selbstverständlichen Part ihrer Zeitung akzeptieren.

Nur, warum stimmen dann die Verkaufszahlen einschließlich aller Online-Ausgaben nicht mehr?

Für das vergangene Jahr kommt das Medienfachportal meedia.de zu diesem Resümee: “Es geht weiter abwärts für die Verkaufszahlen der deutschen Regionalzeitungen. Fast alle liegen unter den Vergleichswerten des Vorjahres…die Berliner Zeitung büßt 6,1% ein, der Berliner Kurier 9,7%, die Berliner Morgenpost 10,8% und die B.Z. sogar heftige 12,5%. Das ist für sie der größte bisher verzeichnete prozentuale Rückgang überhaupt… Regionale Akzeptanz? Identifikation?

Region, Heimat, Identifikation – hier sind sich die ansonsten nicht so homogenen Soziologen einig, sind Begriffe, die vor allem der Generation 60+ im positiven Sinne geläufig sind. In der immer schneller fortschreitenden Globalisierung innerhalb der westlich orientierten Staatenwelt, die China in diesem Punkt mit einbeziehen muß, ist der Anfang 20jährigen Frau aus dem Odenwald, je nach Bildungsgrad, London und Barcelona deutlich näher als Erbach oder Heppenheim. Stadtratssitzungen in Heppenheim? Spannend? Nunja… Da hilft kein Heimatministerium.

Das regionale Werbung für alle Produkte, die ebay und amazon nicht liefern kann, relevant ist, ist schon glaubwürdiger. Nur stellt sich die Frage, ob für regionale Sonderangebote der Begleitinhalt der Stadtratssitzung in Heppenheim so wichtig ist. Regionale Werbung lässt sich trefflich auf Apps und Chats abbilden, denn sie wird meist gezielt gesucht. Widerrum auch nicht unbedingt von den jüngeren Zielgruppen. Große US-Tech-Unternehmen experimentieren deswegen mit minimalistischen, regionalen Inhalten, die ausreichend sind, um dem Anzeigenumfeld eine medial-inhaltliche Umgebung zu bieten. Die “Heppenheim Zeitung powered by your US shopping portal” – eine interessante Idee.